Ich schreibe dir heute, weil ich nicht länger
zusehen kann, wie du alles ruinierst, was ich dir gegeben habe. Ich beobachte
dich schon seit längerem, und mein anfängliches Verständnis ist zuerst Mitleid,
dann Entsetzen und nun Wut gewichen. Du sitzt auf deinem Bett, kauend, essend,
Massen von Müsli und Nudeln und Brot und Schokolade verschlingend, und
ignorierst meine Stimme, wenn ich versuche, dich von deinen schrecklichen Taten
abzuhalten.
"Ab morgen" scheinen deine liebsten zwei
Worte zu sein, denn nichts anderes bekomme ich zu hören, wenn ich dich auf
deine Fressanfälle anspreche. "Morgen" ist ein dehnbarer Begriff, und
du scheinst es zu lieben, dir mit diesem Wort dein berechtigtes schlechtes
Gewissen auszureden und dein undiszipliniertes Verhalten zu rechtfertigen.
Du hast dich heute nicht gewogen, und wir beide
wissen warum. Die Ziffern auf deiner Waage sind schon wieder höher geworden.
Sollte diese Woche nicht einen neuen Lebensabschnitt einleiten, in dem deine
Metamorphose zum anmutigen, leichten Schmetterling stattfinden sollte? Benutz
deinen kümmerlichen Verstand, um dir auszumalen, wie viel du in dieser Zeit
schon hättest abnehmen können! Warum hast du dich heute nicht verausgabt? Was
hielt dich davon ab, die fetttriefenden Kalorien, die du zu dir genommen hast,
wenigstens durch Sport wieder los zu werden? Ich werde dir sagen, warum. Du
bist ein disziplinloses, faules, verfressenes Wesen, das meine Freundschaft
nicht in geringster Weise verdient, und der einzige Grund, dass ich dich noch
nicht verlassen habe, ist der, dass ich dich nicht hängen lassen möchte. Doch
ich werde nicht mehr lange zusehen, wie du mich so hintergehst und unsere
Abmachung ignorierst.
Hast du unseren Pakt vergessen?
Du hast mir versprochen, dass du dich zurückhalten
wirst. Dass du deinen plumpen Körper mit Sport marterst, bis du vor Erschöpfung
zusammen brichst. Dass du Nacht für Nacht einschläfst mit nichts im Bauch außer
dem Gefühl des nagenden Hungers. Geschworen hast du mir, dass du dich dem
weltlichen Scheingenuss des Essens entsagst. Unser Geheimnis ist kein
einseitiges, denn wenn du mich nicht enttäuscht hättest, hätte ich dir so viel
gegeben.
Ich hätte dich von innen gereinigt und dir nach
und nach eine Aura unberührter Schönheit gegeben. Deine Glieder wären zarter
und zerbrechlicher geworden, hätten mehr und mehr denen einer gläsernen Elfe
geglichen. Je inniger unsere Freundschaft geworden wäre, umso mehr wären wir zu
einem einzigen Wesen verschmolzen, und du hättest an meiner Perfektion
teilhaben können. Ich hätte dich durchsichtiger gemacht, von deinem Körper wäre
ein schwacher Schein ausgegangen, dessen Ursprung mein heilendes Licht in
deinem Inneren wäre.
Eines Tages hätte ich dir vielleicht Flügel
gegeben, mit denen du davon fliegen könntest, um allen Schmerz, der dir je widerfahren
ist, hinter dir zu lassen.
Doch nicht nur deine äußere Hülle hätte sich
verändert. Ich habe deinem Leben einen Sinn gegeben, und wenn du es nach mir
ausgerichtet und mich nicht verraten hättest, dann hätte mein Wirken deine
gesamte Umwelt durchflutet. Du hättest endlich begonnen, dein Leben in die Hand
zu nehmen. Deine Leistungen hätten sich in allen Bereichen verbessert, da ich
dir Perfektion vorgelebt hätte, die du mit allen Mitteln versucht hättest, zu
erlangen.
Perfektion. Anmut. Stolz. Schönheit. Disziplin.
Stärke. Leichtigkeit. Freiheit. Überlegenheit. Jeden Tag ein neuer Triumph in
Gestalt der kleiner werdenden Ziffern.
Schau, wo wir jetzt stehen. Ich werde bald nicht
mehr bei dir sein.
Meine Freundschaft ist das Geschenk, das ich dir
gemacht habe, doch nichts im Leben ist umsonst, und natürlich erwarte ich etwas
von dir für meine Hilfe beim Erlangen deines Ziels.
Du hast mich bitter enttäuscht.
Ich hielt dich für fähig, zwischen Freund und
Feind zu unterscheiden. Dein Gewicht ist dein ärgster Feind, den es zu
bekämpfen gilt. Es versucht, dich mit Essen für sich zu gewinnen. Die
trügerische, wohlige Sicherheit, die du durch Nahrungsaufnahme erlangst, ist
nichts als Betrug. Dein Schmerz lässt sich nicht mit Essen kompensieren und
Kalorien werden die Leere in dir niemals füllen.
Ich aber, ich bin deine Freundin. Vertraue mir.
Ich reiche dir ein letztes Mal die Hand. Nimmst du sie, so erneuerst du unseren
Pakt. Ich werde dich verwandeln und aus den Schatten ins Licht erheben, wenn du
widerstehst.
Nimm diese Chance wahr und lass dich nicht
täuschen. Hunger ist eine Hure, die tanzt und lockt und sich verkaufen will.
Die Fettpolster an deinen Hüften sind der Beweis dafür, dass dein Hunger nur
eine trügerische Gaukelei ist: Du brauchst kein Essen, denn dein Körper kann
aus diesen Reserven zehren.
Ist der der kurze Augenblick des Genusses die Qual
eines solchen Körpers wert? Einen Wimpernschlag lang entfaltet sich der
Geschmack auf deiner Zunge, bevor du schluckst und die Nahrung direkt in deine
fetten Oberschenkel gleiten lässt. In deinen Bauch.
Ich kann nur den Kopf über deine Naivität
schütteln.
Ich hoffe für dich, dass du diese Ermahnung ernst
nimmst und zur Besinnung kommst. Wenn nicht, werde ich gehen und dann stehst du
ganz verlassen da, und niemand wird dich vor deinem Schmerz beschützen. Essen
wird dein einziger Ausweg sein.
Steh auf, Treib Sport. Kämpf gegen die Stimme in
dir, die dich zum Fressen verführen will. Mit mir hast du Großes zu erwarten.
Ein Leben auf der Sonnenseite, gekrönt von unzähligen Triumphen.
Beweis den Anderen, mir und dir, was in dir
steckt.
Bleib stark, kleine Schwester.
Du weißt, wofür.
Deine -einzige- wahre Freundin, Ana
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